Mittendrin im Brennpunkt politischer Streitfragen

Die Osterfeiertage boten einmal mehr Gelegenheit, Schwiegereltern und Ex-Schwiegerfamilie meiner Frau im Land der tiefen Teller am geografischen Mittelpunkt Deutschlands zu besuchen. Diesmal hatte ich auf die Frage, wie es beruflich bei mir so läuft, etwas Neues zu erzählen und dazu noch etwas, was thematisch niemanden kalt lässt: Beim Verein Türöffner bin ich verantwortlich für die Integration Geflüchteter in Arbeit. Die Finanzierung des Vereins erfolgt größtenteils über privatrechtliche Stiftungen. 

https://tueroeffner-ev.de/

Die Tätigkeit ist abwechslungsreich, vielseitig und -schichtig. Dazu gehört die Verhandlung mit politischen Entscheidungsträgern auf landes- und stadtbezirklicher Ebene genauso wie die Konzeption von Projekten, um mit Hilfe mehrsprachiger Jobcoaches Menschen dabei wirksam zu unterstützen, nachhaltig eine berufliche Heimat in Deutschland zu finden. Der Türöffner wurde 2016 von Unternehmern im Umfeld des 1. FC Union Berlin gegründet und bildet einen Netzwerkknoten zwischen lokalen mittelständischen Arbeitgebern, der regionalen Nachfrage nach Fach- und Arbeitskräften und dem politischen Sprengstoff, den die gesamte Thematik in sich birgt: Engpässe auf dem Wohnungsmarkt, Ungerechtigkeiten zwischen Menschen aus der Ukraine gegenüber jenen aus allen anderen Herkunftsländern, diverse Gerüchte und Vorurteile, die abnehmende Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Geflüchteter, wenigstens latente Fremdenfeindlichkeit, das sich weiter professionalisierende Schleppergewerbe – und damit meine ich ausdrücklich nicht die Seenotrettung, die Auswirkungen von klimatischen Veränderungen auf die Fruchtbar- und Bewohnbarkeit weiter Erdteile und die gezielte Lenkung von Flüchtlingsströmen zur Erpressung und Destabilisierung europäischer Gesellschaften seitens autokratischer Staatslenker. 

 

Einwanderungsland- und leute

 

Aus eigener Anschauung kann ich die Faustformel bestätigen, dass sich ein Drittel der Migranten relativ schnell in Gesellschaft und Arbeit integriert, ein weiteres Drittel es durch staatlich geförderte Integrationsmaßnahmen, ehrenamtlicher und privatrechtlich finanzierter Hilfe schafft. Das letzte Drittel scheint sich trotz dieser Anstrengungen nicht zu integrieren. Aus der Nähe betrachtet sieht es freilich differenzierter aus: Da sehen wir auf einmal Einzelschicksale, Alleinerziehende, schwer Traumatisierte, psychisch Labile. Aus der Ferne betrachtet ließen sich freilich Statistiken anführen, die die Faustformel der drei Drittel unterschieden nach Herkunftsland, Ethnie und Religionszugehörigkeit dramatisch auseinander fallen lässt. So etwas zu tun, ist nicht unredlich, solange man daraus Schlüsse der zielgerichteten Konzeption ableitet und nicht auf einem Sarrazin’schen Niveau stecken bleibt, auf welchem sich nur Vorurteile bestätigen, statische Menschenbilder manifestieren und damit genau das Gegenteil dessen geschieht, was in der Praxis angezeigt ist: Menschen bei ihrem Verhalten und ihrer Motivation zu nehmen und an dieser Stelle mit ihnen zu arbeiten, anstatt sie als anonymes Herdenschaf einer angeblich homogenen Masse abzuheften. Damit wäre nichts gewonnen, jedenfalls nicht in einer pluralistischen Demokratie, einem Rechtsstaat, der sich einer humanistischen Tradition verpflichtet sieht. Freilich gibt es gerade vor dem Eindruck aufeinanderfolgender Krisen Stimmen, die humanitäre und rechtsstaatliche Maßstäbe für unbezahlbare und geopolitisch naive Ideologien halten, Stimmen, die rein sozialdarwinistisch argumentieren und Menschen nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit betrachten. Dann müsste man aber auch unbesehen der Herkunft den langzeitarbeitslosen Reichsbürger und die renitente Querdenkerin wegen ihrer so betrachteten gesellschaftlichen Destruktivität und ihrer negativen ökonomischen Einzelbilanz genauso wie jeden psychisch gestörten Afghanen oder Eritreer auf ihre Verwertbarkeit als Schweinefutter reduzieren. Ich bin sicher, auf manchen Telegram-Accounts werden längst solche Vorschläge unterbreitet.

 

Push Up Puller

 

Wir werden weiterhin Migration erleben und brauchen intelligente Konzepte, die zuwandernden Menschen mit dem hiesigen Arbeitsmarkt und unserer Zivilgesellschaft vertraut zu machen. Ich sehe noch großes Potenzial z.B. auf Basis von Spiral Dynamics anzusetzen. Insbesondere die deutsche Gesellschaft läuft, was Integration betrifft, noch in Kinderschuhen. Ich höre sehr wohl den Teil in unserer Bevölkerung, der sagt „Wir wollen das nicht. Wir wollen keine Integration und wollen auch nicht für teure sozialpädagogische Maßnahmen bezahlen.“ Ich kann diese Sicht verstehen, habe sie früher selbst vertreten. Ich stimme zu, dass die Hoffnung naiv ist, Migration nach Asylrecht und Zuwanderung dringend benötigter Fachkräften sowie das Schließen der Rentenlücke ließen sich wie von Zauberhand unter einen Hut bringen. Noch naiver jedoch ist die Hoffnung, man könnte Migration einfach durch Herunterlassen eines altmodischen Schlagbaumes am Grenzkontrollhäuschen oder das Ziehen eines meterhohen Zaunes an der gesamten östlichen EU-Außengrenze stoppen. Die Quellen der Migration sind zu tiefgreifend sowohl in der europäischen Geschichte verankert, vom Ausgleich geopolitisch aus den Fugen geratener Kräfteverhältnisse geprägt als auch von absehbaren Entwicklungen vorgezeichnet: Bevölkerungswachstum, Klimaveränderungen, taktische Interventionen von Großmächten wie Russland, China, Indien, instabile und versagende Staaten usw.. An vielen Stellen in der Welt ticken solche Zeitbomben mit Push-Wirkung. Als Pull-Faktoren wirken Mythen und Hoffnungen, die von Autokraten wie Erdogan gern bedient werden. Um die eigenen Staaten einigermaßen stabil zu halten, müssen sie einen Teil der unzufriedenen Jugend einfach loswerden, denn für sie gibt es im eigenen Land keine Zukunft. Diesen sozialen Sprengstoff entlässt man gern in die ohnehin mit Argwohn betrachtete EU. Das betrifft den Nahen und Mittleren Osten, fast alle nord- und sehr viele zentralafrikanische Länder. Dass Menschen auf diese Weise Quasi-Vertriebene werden – streng genommen kein Asylgrund, faktisch aber im Grauzonenbereich – macht die Unterscheidung zwischen Push- und Pull-Faktor immer schwieriger.

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Dass die AfD 2015 Merkel-Selfies und „Bahnhofsklatscher“ als Hauptgrund für die „Flutwelle der islamistischen Heimsuchung“ erfolgreich platzierten und mit dem Verschwörungsmythos einer angeblich seit Coudenhove-Kalergi von langer Hand geplanten Umvolkung aufluden, liegt sogar sehr nahe, wenn man sich in den Gemütszustand dieser Politiker hineinversetzt.

 

Man nehme an: Pluralität

 

Dem Verein Türöffner und seiner erfolgreichen Arbeit einen nennenswerten Pull-Faktor mit globaler Reichweite nachzusagen, ist allein aufgrund seiner Größe und dem ausschließlich deutschsprachigen Internet-Auftritt absurd. Dass er dennoch Strahlkraft hat, liegt sicher an seiner unternehmerischen Nähe, der kulturellen Anbindung an den 1. FC Union Berlin und der pragmatischen unbürokratischen Arbeit. Hier liegt auch das Potenzial zur Entwicklung von Lösungen noch unterbelichteter Problemlagen für die gesellschaftliche Integration. An dieser Stelle kommt der 1. FC Union als Vorbild ins Spiel, von dem nicht nur der Türöffner und andere Initiativen lernen können, sondern auch die Politik: Wie gelingt es, Menschen nicht nur für horizontale Pluralität zu sensibilisieren, der Vielfalt der Kulturen, Ethnien und geschlechtlicher Identitäten; sondern auch zu berücksichtigen, dass unsere Gesellschaft nicht zuletzt aufgrund der vertikalen Pluralität komplex ist und möglichst friedlich gemanagt werden muss. 

Spiel 1. FC Union Fansituation

Was vertikale Pluralität ist, erlebt man bei einem Fußballspiel, denn hier kommen alle zusammen: der katholische Pfarrer, der alleinstehende arbeitslose Alkoholiker, die Betriebsratsvorsitzende, der gebrochen deutsch sprechende syrische Security-Mann, der ausländerfeindliche Spirituosenhändler, die Grünen-wählende Transe, Junge und Alte, Schulabbrecher und Promovierte: Sie finden zusammen bei magischen Gemeinschaftserlebnissen, teilen zeitgleich Emotionen von euphorischer Freude bei einem Angriff durch die eigene Mannschaft und beklemmende Panik kurz vor einem drohendem Gegentor. Sie feiern gemeinsam den Sieg und sind fassungslos über die kassierte Niederlage. Sie erleben gerichtete Aggression. Und sie erleben, wie sie wieder vergehen kann, dass das alles ur-menschlich ist und überhaupt kein Problem zu sein braucht. Sie akzeptieren geschriebene und ungeschriebene Regeln. Sie zahlen Geld als Kunden und verdienen Geld als Arbeitnehmer oder Selbständige, manche beziehen Transferleistungen. Sie verstehen sich als Menschen aus Fleisch und Blut, als Teil einer Gemeinschaft genauso wie als Individuum, als schräge Type mit Stärken und Schwächen. Verlassen sie das Stadion und gehen sie ihrer Wege, verbindet sie noch der weithin sichtbare Union-Schal. Wir in Deutschland vergessen allzu gerne, wie elementar gerade die älteren Entwicklungsebenen des Menschseins sind. Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Initiativen tun gut daran, sich bei ihrer Arbeit darauf zu besinnen.  

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