Wenn betroffene Hunde bellen

  Der #Aufschrei vor der #Nazikeule – oder: Die emotionale Quelle politischer Standpunkte 

 

Wer in sozialen Netzwerken unterwegs ist, politische Artikel, Blogeinträge und Kommentare liest, stößt irgendwann unweigerlich auf jemanden, der sich darüber echauffiert, dass „man das so heut gar nicht mehr sagen darf, ohne gleich als Nazi beschimpft zu werden.“ Ich gehe davon aus, dass das Betroffenheitsgefühl echt ist. Was hat sich da abgespielt und was lief zuvor im Kopfkino für ein Kurzfilm? Was hat ein Mensch gesagt oder geschrieben, was andere dazu veranlasst, darauf so zu reagieren? Sind es vielleicht selbst unbemerkt von rassistischen Vorurteilen geprägte Kommentare? Handelt es sich um Vorverurteilung bestimmter Menschengruppen? Wie gerät jemand in die Sandwichposition, einerseits eine Aussage zu treffen, die andere als nationalistisch oder rassistisch empfinden und gleichsam empörend sich von der Zuschreibung als „Nazi“ distanzieren zu wollen? Vielleicht geht es demjenigen ähnlich, der für liberale Werte einsteht, der wenig von „Law and Order“ hält und der für Völkerverbundenheit eintritt – wenn derjenige als „Linker“ oder als irgendwie „versifft“ bezeichnet wird? Wann identifiziere ich mich mit einem Etikett und wann weise ich es empört zurück? Der weiße alte Arbeitermann fühlt sich kulturell und sozial entprivilegiert. Der will auch über seine Gefühle als Opfer sprechen.

 

Empathie für rechte Gefühle

 

Wir schreiben das Jahr 1991: Ich war noch nicht ganz 19 und durchlebte persönlich eine Phase politischer Neuorientierung: Ein Großteil meines noch aus der Schule stammenden Bekanntenkreises orientierte sich eindeutig links, ein anderer Teil neuerer Bekanntschaften war mehr rechts eingestellt. Kontakt zu bekennenden Nazis hatte ich nur indirekt. Die seinerzeit Berlin-Pankow sehr umtriebige Szene der BFC-Hooligans erlebte ich jedoch hautnah. So saß ich gerade mit Mitgliedern dieser Szene am Tisch in einer Pankower Diskothek, während die ersten der Hooligans mitten auf der Tanzfläche eine Schlägerei anzettelten. Das ganze weitete sich etwas aus, wobei der Großteil des Inventars unbescholten blieb. Die Folge und wie mir anschließend klar wurde auch der Zweck der ganzen Inszenierung: Vom nächsten Tag an kassierte der damalige Oberhooligan die Eintrittsgelder mit einem demonstrativ überdimensioniertem Portemonnaie in der Hand. Das Geschäftsmodell der Schutzgelderpressung war mir schon damals zuwider, doch die Jungs mir irgendwie sympathisch, eben weil sie zwar rechts, aber keine richtigen Nazis zu sein schienen. Sympathiepunkte zahlte die Bindung an den vormaligen DDR-Staatsclub BFC bei mir insofern ein, da ich seinerzeit mit der Form der deutschen Einheit haderte: das BRD-System empfand ich als aufoktroyiert und uns Deutsche mit DDR-Hintergrund zu Unrecht in die zweite Liga deklassiert. Der Golfkrieg des George Bush sr. trug Übriges bei. Hätte ich damals von Reichsbürger-Konzepten gewusst, ich wäre definitiv sehr empfänglich gewesen. Hinzu kam noch die aus der DDR-Sozialisation nachwirkende Parteinahme für Araber und die Ablehnung der israelischen Politik – wenngleich für mich beim Antisemitismus oder gar der Holocaust-Leugnung eine rote Grenze überschritten worden wäre. So sehr ich die Menschen als bierselige Kumpels genießen konnte und auch heute noch in bestimmten Zusammenhängen in meiner Nähe habe, umso schockierter bin ich, wenn sie ihren Schattendurchbruch erleben und nicht nur Schnenkelklopfer auf Kosten von Minderheiten reißen, sondern ihre abgründige Verachtung für Menschen offenbaren – offensichtlich eine charakterliche Grundkomposition, die Menschen zu Rechten werden lässt. So sehr ich danach suchte, ich konnte keine Grenze, keine Distanzierung zur gewalttätigen Rechtsradikalität finden.

 

Erwache!

 

1995 hatte ich noch einmal ein Erlebnis, an das ich mich erst wieder erinnerte, als die ersten Pegida-Umzüge vor der Islamisierung des Abendlandes warnten: Es war ein Traum, offenbar visuell inspiriert von weiß lackierten UN-Blauhelm-Jeeps, die ich im Fernsehen durch Bosnien-Herzegowina fahren sah. In meinem Traum waren es rumänische Geländewagen der Marke ARO, wie sie in den achtziger Jahren im DDR-Straßenbild gab. Weiß lackiert. Und im Traum wurde Deutschland von Rumänien besetzt. Der Schock für mich: die Bundeswehr blieb tatenlos. Wir ließen uns einfach so kampflos feindlich besetzen. Mein Gedanke im Traum, der mich nach dem Erwachen am meisten schockierte: „Wäre jetzt einer wie Hitler am Ruder, dann wäre das nicht passiert.“ Genauso fühlen sich wahrscheinlich diejenigen, die nicht unterscheiden können oder wollen zwischen zivilen Migranten in Notsituation und einer militärischen Invasion mit dem Ziel der Unterdrückung.

Migranten wollen als Menschen behandelt werden. Sie kommen ja noch nicht einmal mit Absicht, sich für die Ausbeutung durch europäische Wohlstandsnationen und das Leid während der Kolonialzeit zu revanchieren – wobei ich von vielen Deutschen gesagt bekomme, dass sie dafür vollstes Verständnis hätten. 

 

Der Austausch findet statt: im Kopf. Täter werden Opfer.

 

Wer keine historischen wie gegenwärtigen, direkten oder indirekten Einflüsse unseres Lebenswandels auf die Menschen im globalen Süden erkennen kann oder will, der beschränkt von vornherein seine Fähigkeit, verantwortungsvoll zu sehen und zu handeln. Wer globale Vernetzungen von Rohstoff-, Waren- und Finanzströmen sowie Abfall- und industriellem CO2-Ausstoß negiert, mach sich selbst kleiner, begibt sich ohne Not in die Opferrolle. Was geht in jemanden vor, der daran glaubt, das deutsche Volk solle durch einen geplanten Bevölkerungsaustausch vernichtet werden? Welche zu wenig berücksichtigten Bedürfnisse und Motive bringen einen Menschen dazu, an die Authentizität der Protokolle der Weisen von Zion zu glauben oder das ab 1922 von Graf Nikolaus Coudenhove-Kalergi skizzierte paneuropäische Zukunftsszenario als gezielten Plan misszuverstehen, Völker zu „durchmischen“ oder gar auszulöschen?

Ich möchte niemanden verurteilen oder auch nur bewerten, womit sich der Kreis zum Ausgangspunkt – der Nazikeule – schließt. Verständigung bleibt die Handlung der Stunde – nicht Spaltung! – gerade Angesichts der Morde und Morddrohungen an deutschen Politikern.

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