Als ich einmal versuchte, rechts zu sein.

Manche Jubiläen feiere ich nicht. So wie dieses: 1991. Deutschland ist seit ein paar Monaten ein einig Vaterland. Meine alten linken Freunde vermittelten mir zunehmend das Gefühl, eine unzureichende Allgemeinbildung zu haben. Dieses ständige Hinterfragen von Vorurteilen und Stereotypen, dieses angewiderte Augenverdrehen, wenn man mal einen zotigen Witz auf Kosten einer Minderheit gerissen hat – das ödete mich unendlich an.

 

Ich machte damals eine Ausbildung zum Elektromaschinenbauer oder -monteur wie der Beruf im Laufe jener Tage umbenannt wurde. In der Welt der Arbeiter war man sowieso lieber rechts als links. Feiern ging ich in Pankow. Technoclubs in Berlin-Mitte kannte ich noch nicht. DJ Jauche, der jüngere Bruder des Fotografen und späteren Berghain-Einlassers Sven Marquardt kam für ein Stündchen zum Auflegen vorbei. Techno war dort der Soundtrack der BFC-Hooligans. Nachdem der Club um 1 Uhr Feierabend machte, saß ich in einer anderen Disco mit dem phlegmatischeren Teil der Hools am Tisch, während die aktiveren Vertreter auf der Tanzfläche eine Massenschlägerei anzettelten, um fortan in diesem Etablissement die Eintrittsgelder zu kassieren.

 

„Hätte ich damals vom Reichsbürgerwesen gewusst,

ich wäre sehr empfänglich gewesen.“

 

Nachdem sich die DDR auflöste, suchte ich nach weltanschaulicher Orientierung. Vom „Helmut Helmut“-Angehimmel war ich genauso abgestoßen wie vom massenhaften Händehochgehalte, wenn von einem LKW kostenlos Bananen oder Pfund-Kaffee in die Ossi-Menge geworfen wurde. Ich kämpfte gegen das Gefühl, Deutscher-Zweiter-Klasse sein zu sollen. Ein nachträglicher DDR-Patriotismus stellte sich ein. Hatte ich mich im Januar 1990 noch freiwillig für die von mir naiverweise als um 180-Grad-gewendet betrachtete Nationale Volksarmee gemeldet, schrieb ich ein Jahr später ein diffus verquastes Anti-NATO+Anti-Christentum-Pamphlet an das Kreiswehrersatzamt. Der Golfkrieg des Bush Senior wütete gerade und ein schon länger schwelender Anti-Amerikanismus paarte sich mit der damals unter Rechten verbreiteten Sympathie für Saddam Hussein. Ich phantasierte mir zurecht, es ginge bei seinem Einmarsch in Kuwait um eine legitime Wiedervereinigung des durch westliche Kolonialmächte in künstliche Staaten aufgespaltenen arabischen Volkes und spielte ernsthaft mit dem Gedanken, mich freiwillig für die irakische Armee zu melden.

 

Die NATO-Feindschaft hatte ich nahtlos aus meiner DDR-Vergangenheit übernommen. Bundeswehr und US-Army waren in meinen Augen sowieso verwöhnte Waschlappenvereine, die nur dank technologischer Überlegenheit es mit östlichen Heeren aufzunehmen im Stande wären. Bei der heute grassierenden Islamophobie kaum noch vorstellbar, gab es vor 30 Jahren unter Rechten eine selbstverständliche Parteiname für Araber gegenüber dem israelischem Staat. Die wiederum entsprach bei mir einer Kontinuität der außenpolitischen Solidarität der DDR. Israel, das war für mich der übermächtige Aggressor. Der David-gegen-Goliath-Mythos lässt grüßen. Ich sah keinen Widerspruch zum von mir strikt abgelehnten Antisemitismus, wurde mir doch erst Mitte der 1990er Jahre überhaupt bewusst, dass Israel auch nur irgendetwas mit Juden zu tun hätte, denn mit Antisemitismus wäre für mich auch damals eine rote Linie überschritten.

 

Ebenfalls 1991 fiel mir L. Ron Hubbard’s Dianetics in die Hände und ich quälte mich mit eiserner Disziplin durch diese Taschenbuch-Schwarte. Der darin propagierte Elitenkult schreckte mich ab. Churchill und Rockefeller wurden als Beispiele von Clears (der Stufe vollständig gereinigten Verstandes i.S. der Scientologen) aufgeführt. Das passte nun so gar nicht in den Proletenkult der damaligen Rechten und auch nicht zu dem Weltbild, das ich mir gerade am Zusammenschrauben war. Mein Verständnis von Rechtssein war geprägt einerseits von Ablehnungen: Elitenkult, Lobbyismus, Parteiendemokratie, Bundesrepublik – andererseits geprägt von der Sehnsucht nach klarer einigender Führung, Gerechtigkeitssinn sowie einer Re-Glorifizierung der wilhelminischen Ära. Hätte ich damals vom Reichsbürgerwesen gewusst, ich wäre sehr empfänglich gewesen. 

 

„Wirkliche Ausländerfeindlichkeit konnte ich übrigens nie entwickeln.“

 

Während einige meiner Freunde engeren Kontakt zu lokalen Führern der seinerzeit noch existierenden rechtsextremen FAP hatten, verabscheute ich gewalttätige Rechtsradikale. Emotional stieß mich Gewalt gegen Schwache schon damals ab. Mehr Verständnis hatte ich für linksradikale Anschläge auf Schickimicki-Restaurants, ja sogar für die Ermordung von Detlev Karsten Rohwedder: „Da hat er mit seiner Treuhand gnadenlos einen Betrieb nach dem anderen abgewickelt, jetzt wurde er selbst abgewickelt“ – sollte ich damals sagen. Ich kann mich noch vage erinnern, dass ich andere Rechte darauf hinwies, dass „so ein Schwachsinn wie das Verprügeln von Schwächeren unserer Sache doch schade“. Sie beruhigten mich mit Erklärungen, die ich inzwischen vergessen habe, weil sie mich damals schon nicht überzeugten. Bei einer Kommunalwahl machte ich mein Kreuzchen noch bei den Republikanern. Immer häufiger jedoch missfielen mir die verachtenden gar nicht so selten auch sadistischen Sprüche spätestens wenn Alkohol im Spiel war. Wirkliche Ausländerfeindlichkeit konnte ich übrigens nie entwickeln, obwohl ich mir damit sogar Mühe zu geben versuchte. Immer stärker merkte ich, dass mein emotionales Bedürfnis, Schwache gegen Starke verteidigen zu wollen, unter Rechten keine passende Heimat fand. Und zunehmend bröckelte meine Illusion von einer klaren Grenze zwischen „gutem Rechtssein“ und Rechtsextremismus. Ich traf auch niemanden, mit dem ich dieses Wunschdenken teilte. In den angeblich gemäßigten rechten Parteien wie Republikaner, DVU, FPÖ – die NPD bewegte sich damals nahe der absoluten Bedeutungslosigkeit – gab sich kein Politiker besondere Mühe, sich von der nationalsozialistischen Ideologie oder vom Antisemitismus zu distanzieren. Rechte Gewaltverbrechen wurden nicht verurteilt, sondern verharmlost. Rückblickend wird diese Zeit auch als „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet.

 

Schlussendlich waren es Frauen, die mir eine Brücke bauten: Im Herbst 1991 verbrachte ich eine Woche bei einem Jugendaustausch-Seminar in der Fabrik Osloer Straße in Berlin-Wedding. Ich fühlte mich pudelwohl unter einer Gruppe ungarischer Mädchen einer von mir fälschlicherweise zwischen SPD und PDS angesiedelten „Jugendorganisation“ namens Fidesz. Dieses Missverständnis sollte sich erst 20 Jahre später aufklären.

 

Anfang 1993 wurde ein Freund von Nazis zu Boden getreten. Mir blieb nur, zu einer Polizeistreife zu laufen. Der Haupttäter wurde gleich wegen mehrerer Delikte vor Gericht gestellt. Ende des selben Jahres wurde ich nahe der tschechischen Grenze im sächsischen Zinnwald Opfer einer Schutzgelderpressung durch eine sich klar als Nazis zu erkennen gebenden Gruppe junger Männer. Als ich dann noch davon las, dass DVU-Chef Gerhard Frey als Vermieter nicht gerade ein Engel, sondern eher ein kaltblütiger Kapitalist sein sollte, trug all dies nicht gerade dazu bei, meine Ernüchterung über meine Illusionen zur moralischen Integrität rechter Gesinnungstäter zu lindern. 

 

„Verschwörungsmythen sind fast immer auch toxische Narrative.“

 

Den tendenziellen Antikapitalismus habe ich nach meinem Mittneunziger-Kuschelkurs mit allem was independent, alternativ, kunst-und-kulturell-unkommerziell war, überwunden, überhaupt wie jedes Anti-Elitäre. In den späten 1990ern wandte ich mich der neoliberalen Weltsicht zu, ganz im Trend von Schröder, den ich wählte, nachdem mich die FDP zunehmend langweilte. Inzwischen studierte ich Wirtschaftskommunikation, diskutierte mit Professor Peter Zec darüber, ob man nicht auch die Bundeswehr privatisieren solle und schockierte den 5 Jahre zuvor in meinem Beisein von Nazis verprügelten Freund damit, Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes als Parasiten zu bezeichnen. Der heutige Markus Krall hätte mit dem damaligen Klaas Kramer seine wahre Freude gehabt. Spätestens beim Sozialdarwinismus wäre bei mir aber Schluss gewesen. 

 

Verschwörungsmythen gegenüber war ich trotz meiner nachträglich vermuteten Affinität zum Reichsbürger(un)wesen nie besonders empfänglich. Sie interessierten mich einfach nicht, bis sie in den letzten Jahren zu einer ernsten Gefahr für den politisch-gesellschaftlichen Frieden geworden sind. Denn Verschwörungsmythen sind fast immer auch toxische Narrative. Das bedeutet, sie schüren Feindseligkeit, Verachtung und Hass gegen Menschen(gruppen). Wer sich als Journalist der Aufklärung verschrieben und sein Geschäftsmodell auf YouTube verlegt hat, sollte genau hinsehen, welche Emotionen die erzählten Narrative füttern.

 

Dabei muss man gar nicht auf QAnon oder den inzwischen gesperrten Ken Jebsen schauen. Dirk Pohlmann, der früher zahlreiche Dokumentationen für öffentlich-rechtliche Sender verantwortete und dessen Ansichten ich über weite Strecken teile, sollte sehr wohl bewusst sein, auf welche Pfade er sein Publikum lenkt, wenn er empörende Tatsachen wie etwa den Mord an Olof Palme und der diesbezüglichen Rolle der NATO mit Verknüpfungen zu Personen des öffentlichen Lebens in wiederholender Weise vollzieht und dabei die politisch bedeutungslose Gruppe der „Antideutschen“ ins Feld führt – eine dezidiert pro-israelische Splittergruppe. „Anti-Deutsch“ – Die meisten werden vorher noch nie etwas davon gehört haben, aber zielsicher Schaum vor dem Mund entwickeln. Das Strickmuster ist durchschaubar, dabei nicht weniger wirkungsvoll: „Der Mainstream lässt dies und jenes weg, weil… schaut mal da genauer hin und … hier schließt sich wieder der Kreis und wussten Sie übrigens schon, dass sich der mit dem schon 1985! …Auf diesem Foto können Sie es sehen.“ Ein blumiges Zitat von Gorbatschow hier und dort noch ein markiges von Egon Bahr – so wird jeder Verdacht einer politisch verächtlichen Richtung zerstreut. Ich unterstelle niemandem unlautere Absichten. Aber das Ergebnis ist sehr oft unheimlich. Ein Blick auf die Kommentare lässt keinen Zweifel. Von Versöhnung und weiser Achtsamkeit kann keine Rede sein.

 

„Es gilt, aus dem Teufelskreis der Feindbildkreation auszusteigen.“

 

Heute ist es en vogue, darüber zu fabulieren, der öffentliche Diskursraum hätte sich zu sehr nach links verschoben und es gäbe immer mehr „Sprechverbote“. Von der anderen Seite sieht es so aus, als würde die Grenze des Sagbaren immer mehr nach rechts verschoben: Verharmlosung des Holocaust, Schüren von rassistischen oder zumindest kulturalistischen Vorurteilen oder gar Ressentiments, Hassrede und Diffamierungen. Ich glaube, das eine bedingt das andere. Es gilt, aus dem Teufelskreis der Feindbildkreation auszusteigen. Eine Hufeisenthese führt daher in die Irre, wenngleich es aus Sicht einiger Beobachter immer wieder gute Gründe gibt, auf eine solche These zurückzugreifen.

 

Generell gilt, dass Linke eher einen Hang zur Differenzierung haben, während Rechte die Welt ganz einfach sehen – Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Beides hat Vor- und Nachteile sowohl für das eigene Lager wie für den „Gegner“. Ich bleibe dabei: Ich halte nichts von einem Gegeneinander. Dabei könnten verhärtete Feindschaften durch Auflösen umhinterfragter Vorurteile und Missverständnisse ganz leicht beendet werden. Einzige Voraussetzung wäre der Wille zur Bereitschaft. Es gibt drei weit verbreitete Trugschlüsse, die rechtes Gedankengut im Umgang mit dem „linken Gegner“ prägen:

  1. Die Verwechslung von Selbstkritik mit Selbsthass – personell wie auch national bezogen.
  2. Die Verwechslung von Postmaterialismus mit Neid: Stichwort „Neiddebatte“, wenn es um ökologische Nachhaltigkeit wie auch soziale Gerechtigkeit geht.
  3. Die Verwechslung von Gleichberechtigung mit Gleichmacherei – in Bezug auf Geschlechter ebenso wie auf Ethnien und sozialen wie geografischen Herkünften.

Die Trugschlüsse 2 und 3 sind sogar im wirtschaftsliberalen Lager weit verbreitet, was neuerdings zu einer Solidarisierung mit Rechten gegen Linke führt – Man teilt die aus meiner Sicht unrealistische Angst vor einem neuen Sozialismus. Besonders bedenklich ist die unreflektierte Übernahme rechter Narrative durch sich als Liberale bezeichnende Kreise, wie etwa der Mythos, ein kleiner Kreis privilegierter „Globalisten“ errichte planmäßig die Neue Weltordnung, in der autochthone Völker das Leidwesen zu tragen hätten, sollten sie darin überhaupt noch eine Rolle spielen. Nachdem George Soros lange genug als Hauptfeindbild herhalten musste, wurde er kurzzeitig durch Bill Gates abgelöst, aktuell ist es Klaus Schwab. Ich bin sicher, es ist nicht das Ende der Sündenbock-Pandemie. Dabei sind Feindbilder nichts als zersetzende Drogen, die niemanden befreien, sondern immer mehr in Abhängigkeit und Elend stürzen. Ich kann nur immer wieder daran appellieren, hier inne zu halten und sich selbst zu fragen: Will ich in einer Welt leben, in der ich Menschen bekämpfe, von deren angeblich bösen Machenschaften ich nur vom Hörensagen zu wissen glaube? Was empfinde ich dabei, wenn ich Hass gegenüber Menschen kultiviere, denen ich nie persönlich begegnet bin? Die allermeisten Menschen sehnen sich nach Frieden und Versöhnung. Versöhnung setzt voraus, dass verhärtete Überzeugungen losgelassen werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Unser Grundgesetz, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ebenso wie die Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten wie auch die Social Development Goals der Vereinten Nationen bilden die Basis, die ich aufgrund der oben beschriebenen Erfahrung nicht mehr verlasse.

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