Das Transzendenzversprechen der Neuen Rechten

Das neoliberale Transzendenzversprechen hat abgewirtschaftet. Nur noch eine Minderheit erwartet stetig steigenden materiellen Lebensstandard, der sie direkt proportional glücklicher macht.

Ein neues Transzendenzversprechen ist im Anmarsch und erfreut sich zunehmender Anschlussfähigkeit. Geliefert wird es von neurechten Bewegungen und so genannten rechtspopulistischen Parteien. Der Kerninhalt dieses neuen Versprechens liegt in einem heilsamen Selbstbewusstsein. Neurechte Bewegungen versprechen, uns Menschen von den Zumutungen der VUCA-Welt zu befreien.

Übersetzt in die Sprache der Zielgruppe sind das folgende Botschaften:

• „Schluss mit Multikulti!“
• „Schluss mit der Klimalüge!“
• „Schluss mit Gender-Gaga!“

Und für alle, denen diese drei Versprechen zu wenig Kuschelfaktor haben, gibt es seit rund einem Jahr eine Extra-Zugabe:

• „Schluss mit der Corona-Diktatur!“

Ich drösele die vier Botschaften der Reihe nach auf:

„Multikulti“…
…steht längst nicht mehr nur für „lästige Ausländer mit Kopftuch und Fusselbart in der Nachbarschaft“, sondern generell für verwirrende Vielfalt,  jede Art von Komplexität und Ambiguität (Mehrdeutigkeit), die eine (post)moderne Gesellschaft mit sich bringt.

„Klimalüge“…
…steht für den nervigen Appell an ökologische Mitverantwortung, der unserem Hedonismus im Wege steht, also Kreuzfahrten, Billigflieger, SUVs – egal ob Diesel oder Benziner.

„Gender-Gaga“…
…einschließlich Political Correctness und Feminismus stehen für die Anstrengung, auf Mitmenschen Rücksicht nehmen zu müssen, sie zu respektieren, gerade dann wenn sie in der Minderheit oder gesellschaftlich schwächer gestellt sind.

„Corona-Diktatur“…
…nimmt einen Sonderstatus ein: Zum einen adressiert diese Botschaft die Ablehnung sämtlicher Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Hier kann sich jeder das herauspicken, was ihn am meisten stört: Kontaktbeschränkungen, Maskentragen, Impfen, eigene wirtschaftliche Einbußen, fehlende Konsummöglichkeiten (Restaurants, Kneipen, Vereinstreffen, Fitnessstudios, Sport- und Kulturevents, Urlaub, Bordelle, etc.). Zum anderen adressiert sie die Ablehnung der Regierungsparteien bis hin zum gesamten Staat. Bei all dem – das ist der Clue! – stärkt sie die Selbstwahrnehmung als Basisdemokrat, staatsferner Freigeist, als Liebes-, Herzens- und Friedens-Hippie.

Die vierte Botschaft hat oberflächlich betrachtet noch gar nichts neurechtes. Schaut man jedoch auf die Quellen und Grundannahmen, auf denen sie beruht, lösen sich alle Zweifel auf: Corona wird als Lüge einer „globalistischen Elite“ deklariert, um die „autochthonen Völker“ (eine Lieblingsformulierung der Identitären Bewegung) zu versklaven. Als würde dies nicht schon ausreichen, kommen gruselige Erzählungen hinzu über das Impfen, angebliche Völkermordabsichten von Bill Gates und schauerliche Märchen aus dem QAnon-Dunstkreis. Man muss längst nicht alles glauben, was da behauptet wird. Die Unzufriedenheit über den Ist-Zustand genügt. Dass man vieles nicht (mehr) versteht, was die da oben machen, gilt als hinreichender Beweis dafür, dass das da falsch und gegen uns gerichtet sein muss.

Neurechte Parteien brauchen weder ein Sozial-, Renten- oder Bildungsprogramm, noch eine Digitalisierungsstrategie, noch nicht einmal eine wirtschaftspolitische Positionierung. Das Versprechen, dass „das hier“ endlich aufhört, ist völlig ausreichend. Das gemeinsame Feindbild Globalisten erzeugt das dringend ersehnte Gemeinschafts- und Verbundenheitsgefühl.

Ein auf breiter Ebene anschlussfähiges Transzendenzversprechen ist doch das Beste, was einer Gesellschaft passieren kann. Es verspricht Glück und baut das Selbstbewusstsein durch ein verbindliches gemeinsames Ziel auf. Wenn das Gleichgewicht zwischen kollektivem Einklang und individueller Entfaltung gewahrt bleibt, wo ist das Problem?

Das Problem ist folgendes: Wir leben in der VUCA-Welt. Wir haben sie selbst miterzeugt durch unseren Konsum, unsere steigenden Ansprüche, durch den brutto pro Kopf steigenden Wirkungskreis: ökologisch durch Ressourcenverbrauch und CO2-Bilanz, sozial durch das Liken, Teilen und Verbreiten von Content im Internet und nicht zu vergessen: ökonomisch durch die Wahl, wohin unser Geld fließt.

Wir könnten nun wie Halbstarke gegen die Umstände rebellieren, indem wir uns einreden, eine Elite hätte uns diese Umstände zu unserem Schaden beschert. Wir könnten Vielfalt abschaffen, was im Ergebnis hieße, alle Menschen abzuschaffen, die nicht unserer Einheitsvorstellung entsprechen. Götz Kubitschek und Björn Höcke machen in ihren Schriften keinen Hehl daraus, was Deutschland blüht, sollte man sie an die Schalthebel lassen. Ex-Polizist und Youtuber Tim Kellner konstatiert in seinem Buch Die Rettung Deutschlands. Visionen eines Neuanfangs: „Man ist entweder für sein Land oder dagegen. Es gibt nichts dazwischen, denn wenn es einem egal ist, ist man letztendlich auch dagegen.“ …um nur eine Seite später die Behauptung aufzustellen, dass die aktuellen Bundespolitiker gegen Deutschland und seine Bevölkerung regieren und unser Land in den Abgrund gewirtschaftet hätten.

Es ist einfach, in diesen Tagen die Regierung als unfähig zu bewerten, sie so schnell wie möglich loswerden zu wollen, sich dem Chor derjenigen anzuschließen, der auf Parallelen zum letzten Jahr der DDR verweist.

Ja, wir brauchen Reformen, wir brauchen Transformation, wir brauchen eine strategisch wie agil handelnde Regierung, die die globalen Herausforderungen angeht – mehr denn je! Die Welt wird komplexer, digitaler, vernetzter, vielfältiger und eben dadurch auch widersprüchlicher. Konzepte, die sich dem entgegen stellen, bieten keine Lösungen und ich stelle die These auf, sie würden wirtschaftlichen Niedergang und unermessliches menschliches Leid verursachen.

Der Werteunion sei ein Zitat der US-amerikanischen Historikerin Anne Applebaum ins Gedenkbuch geschrieben: „So sehr die neuen Rechten die Bolschewiken hassen mögen, haben sie mehr mit ihnen gemein als mit den Konservativen: Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen.“ (aus: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist, 2021)

Liberale demokratische Kräfte in unserem Land täten gut daran, die Bedeutung eines anschlussfähigen Transzendenzversprechens nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren. Wem gelingt es, das gelbe Versprechen „Selbstverwirklichung in der VUCA-Welt“ auch für ältere Memes anschlussfähig zu machen?