Ist Marktwirtschaft gleich Kapitalismus? (3)

Teil Drei: Was tun Vater Staat?

 

„Der Lauf der deutschen Geschichte hat immer wieder gezeigt, wie verwundbar politische Institutionen von kurzfristiger Nützlichkeit und wirtschaftlicher Logik gelenkt werden.“ Harold James

 

Wozu brauchen wir eigentlich Wirtschaftspolitik? Der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann folgend, die den Anspruch erhebt, die Gesellschaft umfassend zu beschreiben, sind Wirtschaft und Politik funktionale Sub-Systeme der Gesellschaft, die sich nicht überlappen, jedoch innerhalb ihrer Umwelt indirekt beeinflussen können. Der Neoliberalismus eines Friedrich August Hayek warnt vor jeglichem Eingriff politischer Akteure. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Milton Friedman war Hayek aber nicht der Auffassung, Marktteilnehmer würden rational handeln. Gerade weil Marktteilnehmer irrational sind, könnten nur Märkte selbst der Inbegriff der Rationalität sein und sollten daher am besten nie durch eine von irrationalen Menschen geschaffene Institution kontrolliert werden. Nun kann man allein die Behauptung, Märkte würden sich auf rationale Weise selbst regulieren und das Schaffen von rechtlichen Rahmen wäre keine politische Intervention, schon als Ideologie betrachten. Wie sich global seit langem zeigt, sind nicht nur Marktteilnehmer sondern Märkte als Ganzes ausgesprochen irrational und sie können dies länger bleiben als jeder menschliche Marktteilnehmer im Laufe seines Lebens zahlungsfähig sein kann – so sagte bereits John Maynard Keynes

 

Es gibt auf unserem Planeten keinen Staat, der auf jegliche wirtschaftspolitische Intervention verzichtet. Die Errichtung einer Notenbank und öffentliche Aufträge sind das Minimum staatlicher Eingriffe. Berufungen auf das Bruttoinlandsprodukt, Wachstumskennziffern und Handelsbilanzen tun ihr Übriges. Wohlhabende Wirtschaftsnationen zeichnen sich zudem dadurch aus, dass es von Wirtschafts- und Forschungsministerien geförderte Investitionen gibt, die Unternehmen allein nicht tätigen würden, wenn keine wenigstens mittelfristige Vermarktbarkeit abzusehen ist. Deutschland steht dabei nach Japan auf dem zweiten Platz, was den prozentualen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrifft. Dabei gibt das BIP an, in welcher Höhe Geld und Werte sich pro Jahr durch die Wirtschaft bewegen. Wer dabei vor allem an Kohle, Autos, Playstations und Toilettenpapier denkt, beobachtet einen schrumpfenden Anteil des Warenaustausches. „Das moderne Wachstum zeichnet sich durch eine beachtliche Entfaltung des Anteils erzieherischer, kultureller und medizinischer Aktivitäten am produzierten Reichtum und der Beschäftigungsstruktur aus.“ (Thomas Piketty) Eine zweite Kennziffer, der Genuine Progress Indicator, integriert zusätzlich das menschliche Wohlbefinden. Das GPI folgt dem BIP solange sich ein Land entwickelt. In den USA stagniert der GPI seit Mitte der 1970er Jahre, in China seit Mitte der 1990er.

 

Global erreichte der Pro-Kopf-GPI seinen Höhepunkt schon 1978. Im gleichen Jahr hat unser ökologischer Fußabdruck die Kapazität der Erde, die Menschheit dauerhaft zu versorgen, überschritten. Wenngleich Australien als das Land mit dem höchsten ökologischen Fußabdruck pro Kopf gilt und auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuweit, Katar und Brunei ganz weit vorne liegen, haben nach wie vor die USA aufgrund ihrer großen Bevölkerungszahl den gewaltigsten Anteil an der globalen Umweltzerstörung. Ein durchschnittlicher US-Amerikaner hat den 32-fachen ökologischen Fußabdruck wie ein Bewohner eines armen Landes. China und Indien haben noch lange nicht aufgeholt, weil nach wie vor ein großer Teil ihrer riesigen Bevölkerung in relativer Armut lebt. Die – wenn auch angeschlagene bis umstrittene – Vorbildfunktion der US-Amerikaner darf weiterhin nicht unterschätzt werden und ein brasilianischer Bolsonaro hätte ohne Rückendeckung von Donald Trump nicht die Kraft, sich gegen internationale Klimaschutzabkommen zu wehren. Noch stützen die Konsum- und Verbrauchsgewohnheiten großer Bevölkerungsteile diese Politik. Erst wenn mächtige reiche Amerikaner sich körperlich nicht mehr sicher fühlen, werden US-amerikanische Präsidenten die Umwelt, aber auch andere gravierende Probleme der US-Gesellschaft erst nehmen. „Die Amerikaner werden ihre Konsumraten aufgeben müssen, ob sie wollen oder nicht, denn die Welt kann ihren derzeitigen Konsum nicht auf Dauer unterhalten.“ – so der US-amerikanische Krisenexperte Jared Diamond

 

Die Mehrheitsfähigkeit zur Fortsetzung einer neoliberalen Politik, wie sie weiterhin von der FDP, dem CDU-Politiker Friedrich Merz, sowie vom wirtschaftsliberalen Flügel der AfD propagiert wird, ist insgesamt am Schwinden. Es gibt sie: Konzepte und Ansätze für eine Reform der Wirtschaftspolitik. Während eine Seite den Euro als gescheitert sieht, das Zinssystem generell in Frage stellt und eine Rückkehr zum Goldstandard fordert, setzen andere Vorschläge wie etwa die Gemeinwohlökonomie nach Christian Felber auf die Re-Integration sozialer und ökologischer Kosten in die Gesamtrechnung. Unter dem Label WeQ wird ein Weg jenseits unserer egozentrischen IQ-orientierten Denkweise in Wirtschaft und Gesellschaft aufgezeigt. Die Hinwendung zu einer menschlichen und kollaborativen Wirtschaft trägt Grundwerte wie Teilhabe, Empathie, Transparenz, Nachhaltigkeit und Verantwortung in sich und findet sich in bereits verbreiteten Konzepten wie Open Source, Wikipedia, Social Entrepreneurship, Design Thinking und der Kreislaufwirtschaft. Der Norweger Anders Indset verspricht mit seinem Konzept der Quantenwirtschaft, den vermeintlichen Gegensatz zwischen materiell und immateriell aufzuheben – analog zur Quantenphysik, in der subatomare Materie zugleich als Energie begriffen wird.

 

Ein Kernproblem der traditionellen Wirtschaft sieht Indset darin, dass die Bewerbung von Konsumprodukten suggeriert, wir müssten immer noch mehr kaufen, um unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, obwohl in hochentwickelten Staaten Nahrungsaufnahme und äußere Sicherheit kein alltägliches Problem mehr darstellen. Bedürfnisse wie soziale Bindung, Potenzialentfaltung und Transzendenz würden somit erstickt bzw. als „emotionaler Zusatznutzen“ im Markenversprechen vermeintlich integriert und somit von einem tiefen Entwicklungs- zu einem oberflächlichen Konsumbedürfnis pervertiert. Der Entfaltung unserer Bedürfnisse auf sozialer und geistiger Ebene sind keine natürlichen Grenzen gesetzt. „Wir sind interdependent verbunden mit einem unendlichen Universum der Potenzialität.“ – so Indset. Die materiellen Ressourcen, die wir zur Befriedigung basaler Bedürfnisse wie Nahrung und Trinkwasser, wie auch Wärme und äußerer Schutz benötigen, sind indessen auf unserem Planeten begrenzt. Für Indset sind Redewendungen wie „Klimawandel“ oder „globale Erwärmung“ nur verharmlosende Beschreibungen für das, was uns wirklich erwarten kann, wenn wir nicht zeitnah und konsequent umsteuern. Quantenwirtschaft beruht auf der Einsicht, dass unsere Welt nicht linear ist. Alles ist miteinander verbunden.

 

Trotzdem die materiellen Ressourcen auf unserem Planeten begrenzt sind, können menschliche Bedürfnisse auch bei weiter wachsender Weltbevölkerung erfüllt werden, vorausgesetzt das persönliche Wohlstandsempfinden und der gesellschaftliche Status entkoppeln sich vom Mehr an Verbrauch und Besitz. Besitz ist ohnehin kein primäres menschliches Bedürfnis, sondern entspringt dem Mangel an sozialem und emotionalem Angenommensein. Nicht die Vermehrung der Habe, sondern die Verringerung der Wünsche ist der rettende Weg (Epiket). Gebrauchsartikel müssen nicht zwingend gekauft werden, sie können auch ausgeliehen werden. Die Sharing Economy wird vielerorts verstärkt praktiziert: Fahrgemeinschaften, Leihfahrräder, Bündnis Lebensmittelrettung, Ausleihcafés, Umsonstläden und vieles mehr. Menschen erkennen für gewöhnlich, dass der Wunsch nach Besitz und Ressourcenverbrauch schwindet, sobald man nicht mehr inneren Mangel kompensieren muss und sich dem Wert des Lebens als Ganzem – auch das aller anderen Mitgeschöpfe – bewusst wird und dessen dass die natürliche Basis (sauberes Wasser, Artenvielfalt, lebensfreundliches Klima) bewahrt und dort wo sie beschädigt ist wiederhergestellt werden müsse. Die Regionalwert AG kauft Höfe auf, für die sich kein Nachfolger findet und verpachtet sie an Bio-Bauern. So wird verhindert, dass die Höfe an Agrarkonzerne gehen. In der Stadt Andernach sind Grünflächen mit essbaren Pflanzen wie Mandeln, Pfirsichen und Mispeln bepflanzt, die von der Bevölkerung frei geerntet werden können.

 

Menschen, die so etwas initiieren und davon profitieren, verändern auch das Bewusstsein über ihre Selbstwirksamkeit, ihren kleinen aber wichtigen Beitrag und tragen diese konstruktive Energie weiter. Das ist keineswegs ein singulär deutsches Phänomen, wie Initiativen in afrikanischen Ländern und sehr zahlreich in Brasilien zeigen. Wir können voneinander lernen, dass und wie es geht und uns mit Menschen verbünden, die Hoffnung haben und etwas tun, um Leid zu beenden. Ende der 1970er Jahre rückte im Nachgang der Lektüre des ersten Berichtes des Club of Rome das Bewusstsein um die begrenzten Ressourcen und somit die Grenzen des (Wirtschafts-)Wachstums schlagartig in den Fokus. Als der Bericht von Dennis L. Meadows 1972 erschien, sagte der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in Lindau vor Nobelpreisträgern „Die Auswirkungen von Umweltschädigungen erscheinen … nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich verschoben, sodass eine erhebliche Zeitspanne zwischen der Verursachung und der schädlichen Wirkung liegen kann. Die Gefahren werden häufig erst erkannt, wenn sie sich bereits millionenfach vervielfältigt haben. Man sollte daraus die Lehre ziehen, dass es insgesamt schon viel später ist, als wir denken möchten. Maßnahmen, die wir heute ergreifen, werden unheilvolle Prozesse unter Umständen erst in Jahren unter Kontrolle bringen können.“ Die gleichsam des radikalen Umweltschutzes wie auch des Sozialismus’ unverdächtige CDU hat 1978 in ihrem Ludwigshafener Grundsatzprogramm vermerkt: „Wo Wachstum zu einer unvertretbaren Beeinträchtigung der natürlichen Umwelt führt, muss notfalls auf solches Wachstum und damit verbundene Einkommensmehrung verzichtet werden.“

 

Im Umgang mit den Produktionsfaktoren können Unternehmen auf vielerlei Weise kreativ sein. Liegt der Schwerpunkt auf der Kapitalverzinsung, werden Boden und Arbeit als auszubeutende Ressource gesehen und leiden langfristig darunter. Liegt der Schwerpunkt auf Arbeit, kann das zu Kapitalflucht führen. Es gilt also, das Dreiergestirn Ökonomie (Kapital), Ökologie (Boden) und Soziales (Arbeit) im Gleichgewicht zu halten. Ein achtsames nachhaltiges Unternehmertum ist daran interessiert, alle drei Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen und keines als den anderen übergeordnet zu verstehen. Die neuseeländische Wirtschaftspolitik stellt soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz auf dieselbe Stufe wie ökonomische Indikatoren. Der neuseeländische Haushalt hat fünf Ziele: die Verbesserung der psychischen Gesundheit, Reduzierung von Kinderarmut, Bekämpfung der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, das Prosperieren des Landes im digitalen Zeitalter sowie die Transformation der Wirtschaft für eine emissionsarme nachhaltige Zukunft. Alle staatlichen Ausgaben werden danach bewertet, ob und in welcher Form sie dazu beitragen, diese fünf Ziele zu erreichen. Die Umsetzung wird regelmäßig unter Einbeziehung Betroffener evaluiert und gegebenenfalls angepasst. Zivilgesellschaft, Politik und Unternehmen sind strukturell miteinander im Gespräch und alle gesellschaftlichen Gruppen können dies unkompliziert nachverfolgen. 

 

Die US-amerikanische Volkswirtin Kate Raworth steht für einen ökologischen und sozial aufgeklärten Kapitalismus und spricht davon, dass wir erst dann nachhaltig sind, wenn es den Begriff nicht mehr gibt. Noch leben wir in einer ausgesprochenen Externalisierungsgesellschaft, das bedeutet dass viele Kosten zur Beseitigung von Folgeschäden durch Containertransporte, Elektroschrottentsorgung und andere Umweltschäden nach wie vor nicht in die Produkte eingepreist und statt dessen von unbeteiligten Menschen, Tieren und nachfolgenden Generationen zu tragen sind. Die Re-Internalisierung dieser Kosten ist die Voraussetzung, um Marktwirtschaft und ökologisch-soziale Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen.

 

Die Welt als Ganzes ist unendlich, was jedoch nicht bedeutet, dass wir Menschen dazu berufen seien, außenterrestrische Kolonialherren zu werden. Die Unbegrenztheit betrifft vielmehr unsere geistigen und kreativen Möglichkeiten, die wir gehalten sind anzuwenden, um Leid zu verringern und die Lebensqualität aller zu verbessern. Lasst uns gemeinsam mit den Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern Lösungen finden, wie sie die Umstände absoluter Armut überwinden und ihre Bedürfnisse nach Konsum, Bildung und Reisen vereinbaren mit dem Schutz unserer gemeinsamen Erde. Lasst uns dabei auch nicht die Ängste von bislang privilegierten Menschen vor dem sozialen Abstieg ignorieren.

 

Wirtschaftswachstum ist nicht zwangsläufig an mehr Konsum und mehr Ressourcenverbrauch gebunden. Wirtschaftswachstum kann auch durch einen verantwortungsvolleren Konsum entstehen: mehr regionale Produkte, mehr Bio, weniger industrielle Landwirtschaft, dafür eine Wirtschaft mit einer höheren Wertschöpfungstiefe. Die gleiche Geldmenge wird ausgegeben, fließt jedoch nicht in undurchschaubare Finanzkanäle, sondern verbleibt regional und geht an Unternehmen mit ökologischer und sozialer Verantwortung. Statt mehr zu verbrauchen und einen hohen Anteil davon wegzuwerfen – man denke an die Lebensmittelverschwendung in Haushalten, Supermärkten, Restaurants und durch die Erzeuger selbst, aber auch an nie oder selten getragene Kleidung in den Kleiderschränken – wird das Geld, was nicht in materielle Produkte, auch nicht mehr so sehr in den Konsum von Betäubungsmitteln fließt, in höhenwertige Dienstleistungen investiert: in die eigene Gesundheit, die Bildung und die geistige Entwicklung. Ich bin zutiefst überzeugt, dass ein solches achtsames Konsumverhalten die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft enorm steigert und dafür die Gesamtkosten für Krankheits- und Kriminalitätsbekämpfung sowie durch vermeidbare Unfälle und Körperverletzungen gesenkt werden könnten. Anbieter von Produkten wie Dienstleistungen würden sich dementsprechend anpassen.

 

Das Argument, dass eine solche Wirtschaft sehr viele Arbeitslose zur Folge hätte, ist leicht zu widerlegen. Ebenso läuft ins Leere, wenn jemand dies als Luxusproblem übersättigter Wohlstandsmenschen diskreditiert. Das Gegenteil ist der Fall: Je achtsamer wir mit den materiellen Ressourcen haushalten, die ja ihre Quelle nicht selten in ärmeren Ländern des Südens haben, desto mehr tragen wir dazu bei, die Lebensgrundlage in diesen Regionen zu erhalten. Nachhaltigkeit ist mitnichten eine Luxuslaune von Bewohnern reicher Länder. Gerade in afrikanischen Ländern, in denen die Auswirkungen der Ausbeutung natürlicher Ressourcen besonders dramatische Einschnitte in die Lebensqualität der Menschen zeitigt, führt die Dringlichkeit ökologisch verträglichen Wirtschaftens zu einer Konsequenz, die bei uns noch vergeblich seines gleichen sucht. Ruanda liefert ein gutes Beispiel für eine an Nachhaltigkeit und sozialer Teilhabe abgestellte Wirtschaftspolitik. Daneben gibt es leider noch immer destruktive Entwicklungen, die mit aller Anstrengung ins Auge gefasst und gestoppt werden müssen.

 

Dieser Artikel ist der dritte von insgesamt vier Teilen. Ein Auszug  aus dem gerade erschienenen Buch „Deutschland in der Krise. Nur durch eine weise Politik zu überwinden.“

Kommentar schreiben

Kommentare: 0